29. Dezember 2025 Ich habe was, was ich nicht seh’

Datum/Uhrzeit: 26.12.2025
Position: 14 26.53'N ; 061 07.5'W
Bisher zurückgelegte Seemeilen: 6.221 nm
Ziel: Martinique
Wetter: Sonnig, wenig Wind
Stimmung an Bord: Zickezackezickezacke Oioioi

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Ich habe was, was ich nicht seh’

Als wir diese Reise begonnen haben, war von Anfang an klar, dass wir nicht nur in viele Länder kommen werden, die einen ganz anderen Lebensstandard als wir in Europa beziehungsweise Deutschland haben, aber auch, dass wir einige unserer alltäglichen Privilegien verlieren werden.
Hier an Bord hat das Wort „Privileg“ für uns inzwischen einen vollkommen anderen Raum eingenommen. Wir setzen uns mit diesem Thema im Unterricht auseinander, jedoch werden wir vor allem bei Landaufenthalten damit konfrontiert.

Was also genau hat sich für uns geändert?
Das Wort „Privileg“ begegnet uns ja immer wieder. Wir sollen froh sein, in Deutschland zu leben, Bildung zu erhalten, zahlreiche Freiheiten und generell sehr gute Lebensumstände zu haben. Dass das wirklich so ist, begreift man vielleicht erst, wenn man Toiletten, Duschen, Cabins, ja quasi das ganze Zuhause mit fast 60 anderen Menschen teilen muss. Dazu gehört natürlich auch das Essen. Wir können nicht einfach aus dem Kühlschrank snacken, zwei Portionen Nachtisch nehmen und jetzt auf dem Atlantik gilt die „one fruit per day – rule“.

Ein anderes Thema sind zugängliche Sanitäranlagen, denn damit hatten wir kurzzeitig unsere Probleme. Aufgrund eines Stiftes, wie sich später herausstellte, waren einige Tage lang ein Großteil aller Toiletten verstopft. Alles Dinge die uns zwar einschränken, mit denen man aber lernt umzugehen, sodass am Ende jede*r satt wird und man beim Reparieren notfalls mal selbst ran muss.

Eine Toilette in einer Kammer an Bord

Eine ausgebaute Toilette, die während der Reparatur auf mysteriöse Weise in die Kammer von Maia, Linda, Liv und Carita gelangt ist © Mia De.

Beitragsbild oben: Swim Call am 27.12.2025 auf Martinique © Laurens


Aber wie sieht es mit anderen Privilegien aus?
Hierzu ein kleines Nachmach-Experiment, mit dem wir uns in Global Learning in Form eines Videos beschäftigt haben. Es besteht daraus, dass sich unterschiedliche Menschen (z.B. eine größere Freundesgruppe oder eine Schulklasse) erst einmal alle auf der selben Startlinie aufstellen. Nun werden verschiedene Aussagen vorgestellt und wenn diese auf euch zutreffen, geht ihr einen Schritt nach vorne.

Hier einmal ein paar Beispiele:

  • Gehe einen Schritt vorwärts, wenn du zur Schule gehst und einen Schulabschluss machen kannst.
  • Gehe einen Schritt vorwärts, wenn du Eltern hast, die sich Zeit für dich nehmen und deine Träume unterstützen.
  • Gehe einen Schritt vorwärts, wenn du schon außerhalb deines Heimatlandes gereist bist.
  • Gehe einen Schritt vorwärts, wenn deine Familie dir ein Studium und eine Wohnung finanzieren kann.
  • Gehe einen Schritt vorwärts, wenn du nach einer Naturkatastrophe auf Hilfe vom Staat setzen kannst.

Wenn ihr euch jetzt umdreht, gibt es vielleicht einige, die hinter euch stehen oder ihr seid selbst eine der Personen, die nur wenige Schritte vorwärts gegangen sind. Wie fühlt sich das an, dass andere bei einem Wettrennen viel mehr Strecke zurücklegen müssten, um ins Ziel zu kommen? Klar, waren die Aussagen jetzt mehr auf Kinder und Jugendliche angewandt, aber auch ihr Erwachsenen könnt euch ja in das entsprechende Alter zurückversetzen.

Und diese Sätze sind nicht willkürlich entstanden. Denn bei unserem ersten außereuropäischen Landaufenthalt auf den Kap Verden ist vielen von uns klar geworden, dass dies eben nicht selbstverständlich ist.  Zum einem begegneten wir Menschen, darunter auch Kinder, die uns um Geld für Essen baten. Auf Märkten sah man zudem häufig Kinder, die von ihren Müttern zur Arbeit mitgenommen worden sind, wahrscheinlich, weil das Geld für Kinderbetreuung fehlt.

Markt in Mindelo mit Mutter, Kind und Straßenhunden

Markt in Mindelo mit Mutter, Kind und Straßenhunden © Mia De

Treffen mit Schüler:innen aus Mindelo

Treffen mit Schüler:innen aus Mindelo © Mia De

Zum anderen fiel uns auf, als wir Schüler*innen unserer Partnerschule in Mindelo getroffen haben, dass wir schon ganz schön privilegiert sind. Während wir oft jährlich auch im Ausland Urlaub machen, haben die meisten von ihnen noch nie Kapverden verlassen. Manche müssen einen langen Schulweg zu Fuß antreten und wiederum anderen wird es nicht möglich sein, ihren Beruf oder wo und was sie studieren möchten, frei zu wählen.

Was sehr überraschend war, dass die meisten, obwohl sie am Meer aufgewachsen sind, nicht schwimmen konnten. Anders als bei uns, wo eigentlich jede*r  schon in der Grundschule das Seepferdchen machen muss, wird in ihrer Schule erst ab 16/17 Jahren ein Schwimmkurs angeboten, der aber die Teilnehmenden auch nur unter bestimmten Voraussetzungen aufnimmt.

Auch unterhielten wir uns über die Sturmschäden, die bei einem schweren Sturm im Sommer entstanden sind, und wie die Menschen vor Ort das erlebt haben. Ein Mädchen erzählte von einer Bekannten, zu dem Zeitpunkt eine alleinerziehende und schwangere Mutter, die bei dem Unwetteri ihr Haus mitsamt ihrem ganzen Besitz verloren hat. Und sie war nicht die einzige, die nach dem Sturm mit nichts da stand.

Es kommen zwar auch in Deutschland Naturkatastrophen mit schwerwiegenden Schäden, wie die Überflutung im Ahrtal, vor, dort jedoch halfen, neben zahlreichen Freiwilligen, auch das Militär bei den Aufräumarbeiten und der Staat stellte Gelder bereit, um Privatpersonen finanziell unter die Arme zu greifen. Wie uns erzählt worden ist, sei die versprochene finanzielle Unterstützung auf Kapverden wohl nicht angekommen, sondern für ein Monument in Bahia verwendet worden.

Ich will mit diesem Blogeintrag aber nicht erreichen, dass ihr nun zu Hause sitzt und ein schlechtes Gewissen wegen all eurer Privilegien habt oder dass ihr euch Sorgen um unseren Lebensstandard an Bord macht. Es geht vielmehr darum, zu realisieren, dass viele Menschen mit anderen Grundvoraussetzungen in das Rennen „Leben“ starten und weniger Chancen haben, beziehungsweise sich mehr anstrengen müssen auf dem Siegerpodest zu landen. Deswegen sollten wir uns unseren Privilegien bewusst sein und sie dafür einsetzen, Anderen zu helfen. Schaut da auch gerne (gerade jetzt in der Weihnachtszeit) mal bei euch vor Ort, ob es lokale Organisationen oder Ehrenämter gibt.

Unsere Vorspeise an Weihnachten

Als Vorspeise gibt es beim Weihnachtsmenü neben Suppe und Crackern auch Frischkäsemäuse © Becci

Unser Hauptgang zu Weihnachten

Unser Hauptgang: Quiche, Kartoffelgratin, Brie mit karamelisierter rote Beete und Hähnchen © Jonah

Der Nachtisch zu Weihnachten

Vanillesahne-Grützen-Spekulatius-Creme als Nachtisch © Jonah

Hier sieht man unser phänomenales Drei-Gänge-Weihnachtsmenü mit Gruß aus der Küche. So viel zu unserem Lebensstandard :)

Bis Baldrian, Mia De.

PS:
Die Privilegien, die wir Bord am meisten vermissen, sind:
Essen (und kochen), was man will und wie viel man will und Freigang. 

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Grüße:

  • Mia Di: Liebe Grüße an alle zu Hause! Ich hab mich unfassbar über die Weihnachtsgrüße gefreut! Und Leute ich hab mich nen Backflip vom Schiff getraut :)
  • Mia De: An meine allerliebste Sophie-Kartoffie: Du weißt gar nicht, wie lieb ich dich hab und wie mega stolz ich auf dich bin. Du bist für mich eine der wichtigsten Menschen in meinem Leben und ohne dich wäre ich ganz oft ziemlich aufgeschmissen. Ich hoffe du hattest einen wunderbaren Geburtstag mit leckerem Kuchen und coolen Geschenken. Mein Geschenk sah dieses Jahr etwas klein aus, ich hoffe dir hat die Bridgerton inspirierte Krone gefallen. Ich freu mich, bald ausführlich mit dir zu telefonieren und ein Update von der Zeit zu bekomme, in der ich isoliert auf dem Atlantik geschippert bin. Übrigens, auch wenn ich gesagt habe, die Bescherung war am schönsten, die Grüße waren auch am besten, ich hab mich so sehr gefreut; ihr wart sehr kreativ. Hab euch alle lieb, bis bald!
  • Luna: Alles Gute nachträglich zum Geburtstag liebe Ami!! Ich hoffe du hattest einen ganz, ganz schönen Tag. Ich denke ganz oft an dich und vermisse dich. Ganz liebe Grüße, deine Luna
  • Pauli: Alles Gute zum Geburtstag Papa <3 Alles über 60 Jahre gilt als ururalt ;)
  • Linda: Ganz liebe Grüße an Oma und Opa!
  • Lilly F: Ganz liebe Grüße an alle daheim – ich hab mich an Heiligabend sehr über eure Videobotschaft gefreut