Auf der "Eendracht" ins Abenteuer – Die 33. High Seas High School sticht in See
Am Morgen des 30. Oktober liegt die „Eeendracht“ fest vertäut und friedlich an der Pier des Neuen Hafens in Bremerhaven. Ihre 25 Meter hohen weißen Master sind schon von weitem sichtbar. An Deck und auf dem Pier jedoch herrscht schon eifriges Gewimmel. Rote, gelbe und blaue Segeljacken mit dem Logo der High Seas High School (HSHS) auf dem Rücken bewegen sich wie bunte Lichtpunkt vor dem Weiß der Decksaufbauten und dem Blau des Rumpfes.
38 junge Menschen aus allen Teilen Deutschlands haben die vergangene Nacht in den Kojen ihres 59 Meter langen neuen Zuhauses verbracht und vor lauter Aufregung wahrscheinlich einen eher leichten Schlaf gehabt. Heute brechen sie gemeinsam mit sechs Pädagogen und der Crew des holländischen Dreimastschoners auf in ihr großes Abenteuer. Ihr Ziel: die andere Seite des Atlantiks!
Für die nächsten sieben Monate wird das Schiff zu ihrem Lebensmittelpunkt. Sie überqueren einen Ozean, um an dessen Ende Länder, Menschen und Kulturen kennenzulernen, die die meisten von ihnen bisher nur aus ihren Erdkundebüchern kennen. Auf dem Weg über das Meer erlernen sie die traditionelle Seemannschaft und alles, was es braucht, um ein Segelschiff sicher und auf dem richtigen Kurs zu steuern.
Ihr Unterricht in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften sowie den Fremdsprachen wird anders sein als sie ihn von ihren Schulen kennen. Er wird praktischer sein, lebensnaher, wird auf das Bezug nehmen, was sie auf ihrer Reise ganz unmittelbar erleben. Das eigentlich wertvollste, was die jungen Menschen von dieser Reise mitnehmen werden, ist die Erfahrung einer Gemeinschaft, in der sich jeder auf den anderen verlassen kann, das Wachsen an Herausforderungen und die Erweiterung des eigenen Horizonts.
Um 10 Uhr stehen Menschen auf dem Pier in Gruppen dicht beieinander. Eltern, Großeltern, Geschwister und Freunde sind da, um sich von den Abenteurern unterrichten. Glückbringer, Fotoalben und Briefe werden übergeben, Tränen fließen und Umarmungen dauern eine kleine Ewigkeit lang an. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Wachweise gehen die Jugendlichen über die Gangway zurück aufs Schiff. Mancher wirft noch einen kurzen Blick zurück, winkt noch einmal in die Menge.
Über die gesamte Steuerbordseite des Schiffes verteilt stehen sie an Deck, wirken in einem Moment nachdenklich, gespannt, wehmütig, im nächsten Moment gelöst und voller Vorfreude darauf, dass es nun endlich losgeht. Sie bekommen noch ein Lied mit auf den Weg – gedichtet von den Eltern zur Melodie des „Wellerman“, gesungen von allen auf dem festen Boden der Pier verbleibenden, begleitet von Geige und Schifferklavier.
Und auch der HSHS-Sextant geht wieder mit an Bord. Lietz-Schulleiter Florian Fock überreicht ihn an Kapitän Marco. Ein Gravur erinnert an die Gründer des segelnden Klassenzimmers, den ehemaligen Schulleiter des Inselinternats, Hartwig Henke, und seine Frau Ute Hildebrand-Henke. Seit dem allerersten Törn im Jahr 1993 haben im Rahmen dieses Projekts schon Generationen von Schülern auf verschiedenen Schiffen die Welt bereist. Mit dem Sextanten erlernen sie die Fertigkeit der Navigation nach den Gestirnen und schlagen so eine Brücke zu den Seefahrern vergangener Zeiten, die noch kein GPS und moderne Bordelektronik zur Verfügung hatten.
Auf diesem 33. Törn sind auch die drei Lietzer Greta, Mateo und Julius dabei. Ihre Schulkameraden und Lehrer sind an diesem Morgen extra von Spiekeroog angereist, um ihnen Lebewohl zu sagen. Von nun an werden sie in Gedanken mitreisen und beim Lesen der Blogeinträge am Abenteuer High Seas teilhaben.
Greta ist auf der kleinen Nordsee-Insel groß geworden und hat ihre Seebeine schon viele Jahre lang auf kleinen Booten im Wattenmeer getestet. Nun will sie auf dem Großsegler die Welt entdecken. Mit Spannung sieht sie den Begegnungen mit den Menschen am anderen Ende der Welt entgegen und freut sich darauf, neue Freundschaften an Bord zu knüpfen.
Auch für Mateo und Julius als Internatsschüler ist das Segeln schon seit Längerem ein fester Bestanteil ihrer Freizeitgestaltung. Aber das Leben und die Routinen an Bord der Eendracht werden sie noch einmal ganz anders herausfordern. Während Mateo sich besonders auf vielfältige Eindrücke von Kulturen, Kulinarik und Natur freut, wird für Julius der Tauchkurs in Grenada ein großes Highlight sein.
Mit all ihren Träumen und Erwartungen im Gepäck schauen die drei Lietzer mit all den anderen Schülern auf die winkende Menge als pünktlich um 11 Uhr die Leinen losgeworfen werden und die „Eendracht“ sich in Bewegung setzt. Diesem Moment haben sie so lange entgegengefiebert und doch ist der Abschied von Familien und Freunden schwer.
Die Zurückbleibenden auf dem Pier schwenken Transparente und Taschentücher, laufen noch ein Stück mit bis zur geöffneten Hebebrücke, durch die der Dreimaster sich in Richtung Schleuse schiebt. In sieben Monaten werden sie genau an dieser Stelle stehen, Schiff und Crew wieder in Empfang nehmen. Sie werden überwältigt sein von Wiedersehensfreude und dem Erstaunen, welch prägende Entwicklung die 38 jungen Menschen durchlaufen haben.