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1994/95 = 2.HSHS Frederik Hetmann interviewt Hartwig Henke

In den Jahren 1993 startete das Projekt auf dem Toppsegelschoner Fridtjof Nansen, auf dem auch die zweite Reise 1994/1995 stattfand. Jetzt haben wir in dem Buch zum zweiten Törn ein Interview mit Hartwig Henke, dem Gründervater von HSHS, gefunden, welches etwas über die damaligen Kinderkrankheiten und Ziele des Projekts erzählt. Bitte bedenkt beim Lesen, dass es damals weder E-Mails noch Satelliten-Telefonie gab, Fotos auf Negativ- oder Dia-Film gemacht wurden und sich nicht nur die Technik sondern auch die HSHS weiterentwickelt hat. 

Der Schriftsteller Frederik Hermann (eigentlich Hans-Christian Kirsch, *1994 – †2006) war die Etappen von Deutschland bis Barbados an Bord der »Fridtjof Nansen« und half den Schüler:innen beim Schreiben ihrer Texte und Exkursionsberichte. 

Christiane Goltz (Projektleiterin) und Hartwig Henke (Gründer)

Beitragsbild: Christiane Goltz (Projektleiterin) und Hartwig Henke (Projektgründer) am 7.7.1995 an Bord der »Fridtjof Nansen« nach ihrem Einlaufen in Wilhelmshaven © N.N.

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Wie kam es zu dem Einfall, eine Schule auf See, eine High Seas High School, zu kreieren?

Seit 12 Jahren unternehmen wir mit der Hermann Lietz-Schule Spiekeroog Kurzzeitseetörns auf der »Thor Heyerdahl«, einem Dreimasttoppsegelschoner. Dabei habe ich Detlev Soitzek kennengelernt, der ahnliche pädagogische Ziele verfolgt wie ich. Wir haben festgestellt, daß Seereisen für Jugendliche sehr wirkungsvolle, erzieherische Unternehmungen darstellen und auch bei den Jugendlichen sehr beliebt sind. Seit 1986/87 schwärmten Detlev, meine Frau und ich von der Idee, Schule für einen bestimmten Jahrgang ganz auf ein Schiff zu verlagern. Diese Idee ist nie in Vergessenheit geraten, doch die Thor Heyerdahl und auch unser Internat auf Spiekeroog waren lange Zeit in andere Verpflichtungen eingebunden.

1991/92 entstand dann ein ähnlicher Dreimasttoppsegelschoner wie die Thor Heyerdahl, die Fridtjof Nansen. Hanns Temme, der Kapitän der Fridtjof, kannte ich schon, da er auch als Kapitän auf der Thor gefahren ist. Hanns war von der Idee, für längere Zeit mit Schülern zur See zu fahren, sehr begeistert. Hinzu kam, daß die Fridtjof noch nicht in festen Verpflichtungen einbezogen war. So konnte dann fast zufällig doch noch die Idee einer Schule auf dem Meer realisiert werden.

 

Gibt es eine Verbindungslinie zur Reformpädagogik?

Ja, es gibt eine Verbindungslinie zur Erlebnispädagogik, deren geistiger Vater Kurt Hahn ist. In dem großen Spektrum der Erlebnispädagogik sind auch die sogenannten Kurzschulen entstanden und hier gibt es Vorbilder für unser Projekt im Bereich des Segelns und der Seefahrt. Im deutschsprachigen Raum gab es allerdings Langzeittörns, das bedeutet, die Hälfte eines Schuljahres auf ein Schiff zu verlagern, noch nicht.

 

Bei Lietz, Winiken oder Geheeb, den Gründungsvätern der Reformpädagogik, taucht der Gedanke einer Schule auf dem Meer nicht auf?

Nein, doch der Sprung von dem Leben an Land zu dem an Bord ist einfach. Die gleichen Grundideen – das gemeinsame Leben, Erleben und Arbeiten von Jugendlichen und Erwachsenen – liegen sowohl dem Projekt High Seas High School, als auch der Reformpädagogik zugrunde. Wenn Lietz nicht auf dem Land, sondern an der Küste aufgewachsen wäre, könnte ich mir gut vorstellen, daß er seine Pädagogik auch auf einem Schiff umgesetzt hätte.

 

Was sind die konkreten Ziele des Projektes?

Die High Seas High School verfolgt im großen und ganzen zwei Ziele. Zum einen sollen die Schüler lernen, das Schiff weitestgehend selbständig zu segeln und zu führen. Sie sind an Bord vollwertige Besatzungsmitglieder, die alle anfallenden Arbeiten erledigen. Das fängt bei Segelmanövern und Ruder-Gehen an, bezieht den Kombüsendienst mit ein und endet bei der Navigation bis hin zur Schiffsführung. Zum anderen soll der Lehrplan der 11. Klasse aufgebrochen werden. Die Inhalte des gymnasialen Lehrplans werden nicht rausgeschmissen, sondern in lebensnahe, vitale Zusammenhänge gestellt. Die Schüler erleben so, daß Inhalte der herkömmlichen Schule, die durch die curriculare AufspIitterung völlig entfremdet worden sind, wirklich gelebt werden können und einen lebensnahen Bezug besitzen. Für die Schule auf dem Meer bedeutet das, daß sich die unterrichtliche Seite an den Reisezielen und am Meer orientiert. Das bedeutet, dass die Schüler die Sprache, Geschichte, Geographie, Kultur und die Menschen der Reiseländer kennenlernen. Und sie müssen sich auch mit den Wind- und Strömungssystemen des Atlantiks auseinandersetzen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Schüler gute Seeleute werden, die Menschen und Kulturen der Reiseländer sowie das Meer kennen- und verstehen lernen sollen.

 

Zwei Reisen haben bis jetzt stattgefunden. Was hat sich bewährt, was muß geändert werden?

Bewährt hat sich die Grundidee. Ein Schiff ist der richtige Ort, um Erfahrungen zu sammeln, herausgefordert zu werden und in einer Gemeinschaft zu leben. Auf einem Schiff kann man sich wohlfühlen. All die vielen Bedingungen, die ein Lebens- und Lernort besitzen muß, werden von einem Schiff erfüllt. Der entscheidenste Punkt ist immer, und hier müssen auch die Veränderungen ansetzen, was die Menschen aus den ihn gegebenen Voraussetzungen schaffen. Die beiden letzten Reisen haben gezeigt, daß die Personen, die an dem Projekt teilnehmen, viel mehr mit der Idee, warum sollen Jugendliche auf einem Schiff leben und lernen, vertraut gemacht werden müssen. Es hat sich gezeigt, daß die Erwachsenen an Bord im Stande sein müssen, Partner der Schüler zu sein. Dabei geht es um ein hohes Maß an Akzeptanz im Grund- und Individualverhalten. Allein die Situation an Bord überzeugt die Leute nicht. All diese Dinge müssen mit den Erwachsenen viel eingehender vor dem Törn besprochen werden. Und, ich sage es einmal so kraß, es muß sehr viel rigider ausgewählt werden, wer von den Erwachsenen mitsegeln darf. Bei den Jugendlichen findet diese Auswahl schon jetzt statt.

 

Wo liegen die Schwerpunkte der Lernziele aufgrund der Erfahrungen der letzten Reisen?

Der erste Schwerpunkt liegt auf dem Schiff, auf der Technik des Segelns und der Professionalität, ein Schiff zu führen. Daraus ergeben sich dann gesondert eine Menge von Lernzielen. Der Unterricht wird diesem ersten Schwerpunkt zugeordnet. Das bedeutet z.B., daß der Mathematikunterricht im Bereich der terrestrischen Navigation und Astronavigation stattfindet. Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Schwerpunkt, der Erfahrung mit anderen Ländern und Menschen sowie deren Kultur, Geschichte und Sprache. In diesem Bereich bewirkt der Unterricht zudem, daß die Schüler sich auch innerlich auf ein Reiseland einstellen und Erfahrungen nicht einfach intuitiv und spontan machen müssen. Der dritte Schwerpunkt ist das Leben in der Gemeinschaft, das zwar automatisch geschieht, aber nicht unbewußt bleiben sollte. Die Schüler müssen Techniken und Umgangsformen für das gemeinsame Leben an Bord entwickeln und lernen, konstruktiv und tolerant miteinander zu kommunizieren. Diese drei Schwerpunkte lassen sich natürlich nicht voneinander trennen, sie gehen ineinander über. Das eine bedingt das andere.

 

Gibt es Schwierigkeiten innerhalb der Schullaufbahn?

In der heutigen leistungsorientierten Gesellschaft tritt doch bei Eltern und Schülern sicherlich das Problem auf: Verliere(n) sie/ich ein Jahr, schaffe(n) sie/ich das Abitur? Diese Frage ist mir oft gestellt worden. Ich finde die Eltern sehr sympathisch, denen es auf dies eine Jahr nicht ankommt. So können die Jugendlichen entspannt und ohne Erwartungsdruck an die Reise herangehen und sich an Bord nach besten eigenen Kräften einsetzen. Die Motivation, an solch einer Reise teilzunehmen liegt ja nicht darin, in die 12. Klasse versetzt zu werden und das Abitur so schnell wie möglich zu schaffen, sondern in der Sache selbst. Meinen Kindern würde ich am liebsten zwei Jahre Schule auf dem Meer ermöglichen. Man kann es ja auch mal ironisch sagen, was Persönlichkeitserfahrung und lebensgeschichtliche Erfahrung betrifft, kann man eigentlich gar nicht viel in der Schulzeit verlieren.

Viele Jugendliche empfinden heutzutage die Schulzeit als verlorene Lebenszeit. Das muß man ernst nehmen, auch wenn es schon fast zynisch klingt. Im Projekt High Seas High School geschieht das Gegenteil, die Erfahrungen auf dem Schiff und während der Reise sind auf jeden Fall gewonnene Lebenszeit. Wenn dann jemand kommt und sagt, Schule auf dem Meer ist ein verlorenes Jahr, dann werde ich regelrecht traurig und frage mich: warum gönnt man diesen Jugendlichen nicht ein Jahr gewonnener Lebenszeit?

 

Bis jetzt liegt die Initiative und Durchfürung der Reisen im Rahmen der Landerziehungsheime, das sind private Internate. Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit auch öffentliche Schulen an der Schule auf dem Meer teilnehmen können?

Einmal denke ich, daß es möglich sein müsste an öffentlichen Schulen auch öffentliche Kostenträger in die Finanzierung der Reise miteinzubeziehen, so wie es uns hier gelungen ist. Wir haben natürlich einen leichteren Zugang an öffentliche Kostenträger, weil wir an allen privaten Internaten eine Anzahl von Schülern haben, die über öffentliche Kostenträger finanziert werden. Der Kostenrahmen für die Internate bewegt sich ohnehin im Rahmen der Reisekosten. Der zweite Adressat sind Sponsoren. Dies ist ein Bereich, der noch sehr viel mehr ausgebaut werden kann. Und zuletzt denke ich, daß man auch Eltern bis zu einem gewissen Grade dafür gewinnen kann, sich an einem Teil der Gesamtkosten zu beteiligen. Ich kann es auch ganz formal sagen: man rechnet heute, daß ein Kind, wenn es in der Familie lebt, monatlich 500 bis 600 DM kostet. Wenn dann die Eltern und Großeltern noch das Geld für Weihnachtsgeschenke und sonstige Geschenke als Zuschuß zu den Reisekosten dazugeben und von den Geschenken absehen, so ist den Eltern ein Drittel möglicherweise die Hälfte der Reisekosten zumutbar. Wenn man sich dann diese Überlegungen als additives Finanzierungsmodell vorstellt, so bekommt eine Teilnahme öffentlicher Schulen an dem Projekt High Seas High School plötzlich eine ganz realistische Dimension.

 

Hartwig, ich danke Dir für das Gespräch.