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Rückblick Die erste Summer High Seas High School 2002

Ein Reisebericht der Projektleitung

„…im Februar 2002, kurz vor meinem ersten Staatsexamen (Englisch und Biologie auf Lehramt der Sekundarstufen I und II), fragte Hartwig Henke mich, ob ich Interesse hätte, die erste Summer High Seas High School zu begleiten. Im Juni begann die „heiße“ Planungsphase für die Fahrt. Direkt nach den Prüfungen sollte ich nun eine „Klassenfahrt der Superlative“ planen. Getreu dem Satz Man wächst mit seinen Aufgaben! machte ich mich an die Arbeit. Ich wälzte meterweise Reiseführer, um die Reiseroute zu planen. Mit Schulbüchern, Vokabeltrainern und landeskundlichen Büchern versuchte ich einen interessanten und lebendigen Unterricht vorzubereiten. Am 14. Juli, dem Einschifftag, sah ich mich mit vielen unbekannten Gesichtern konfrontiert: 12 Mann Stammbesatzung, 30 erwartungsvolle Schüler und Schülerinnen und die vielen ebenso erwartungsvollen Eltern. Abends verließen die Eltern das Schiff. Die Mitglieder der Stammbesatzung lernte ich schnell kennen.

Am 15. Juli begann unsere große Reise. Viele organisatorische Dinge waren zu klären: Einteilung der Backschaft („Küchendienst“), die Verteilung der Referate zu den einzelnen Etappen und vieles mehr. Mit den Referaten sollten in Kleingruppen die einzelnen Etappen vorgeplant werden und interessante Sehenswürdigkeiten der Gesamtgruppe vorgeschlagen werden. Am nächsten Tag fuhren wir durch den Nord–Ostsee–Kanal. Bisher war es – abgesehen von den Motorengeräuschen, die nicht ganz zu einem Großsegler passten – eine Fahrt wie im Bilderbuch! Ich wurde der Wache 3 als zweiter Wachführer zugeordnet. Das bedeutete auch für mich: Lernen im Eiltempo! Am dritten Tag erwischte mich die Seekrankheit! Wie meine Schüler und Schülerinnen hing ich bald – über der Reling und „fütterte die Fische“. Hatte ich mich wirklich richtig entschieden? Natürlich auch Anflüge von Heimweh: In der Ferne blitzten die mir vertrauten Leuchttürme von Wangerooge, Helgoland und Norderney! Irgendwo da hinten musste Spiekeroog, mein Zuhause, liegen… Den Schülern und Schülerinnen ging es genauso. Während der Wache musste ich auf meinem Posten bleiben Mein „Posten“ war für die nächsten vier Stunden die Backskiste an Backbord.

Am nächsten Morgen war ich immer noch seekrank – wie über die Hälfte der Schüler und Schülerinnen. Gut, dass ich keinen Unterricht eingeplant hatte! Abends hatte ich dann genug – das Abendessen sah zu lecker aus! Bei dem guten Essen auf der Thor geht das auch wirklich nicht anders: morgens frischer Obstsalat, kalte Platten, mittags warmes Essen mit Salat und Nachtisch, abends kalte Platten, Bratkartoffeln – traumhaft!! Einige Schüler schafften es dennoch standhaft ihre Seekrankheit zu behalten. Einige ertrugen ihre „Krankheit“ mit stoischem Galgenhumor, aber zwei wollten die Reise abbrechen und nach Hause fahren! Also musste ich in Dover ihre Eltern anrufen, fand dabei aber Unterstützung dafür, dass sie bei uns bleiben sollten. Wir waren einen Tag früher als geplant in Dover, so dass sich der Londonausflug einen Tag verschob. Bus und Führer ließen sich nicht umbuchen. Also mussten wir Lehrer kurzfristig alles neu planen. Es war nicht leicht die Schüler und Schülerinnen in London zusammenzuhalten. Trotzdem fanden wir was wir suchten: die Themse und anschließend das National Maritime Museum in Greenwich. Erschöpft kamen wir wieder in Dover an! Nun nahte auch der erste Englischunterricht. Die Schüler und Schülerinnen machten gut mit. Probleme hatten wir nur mit der Organisation des Stundenplans. Im Bordbetrieb stehen die Wachzeiten in drei Gruppen von vorne herein fest. Zusätzlich müssen Schüler für die Backschaft abgestellt werden. Schließlich teilten wir die Gruppe in zwei Kleingruppen á 15 Schüler auf, die morgens, bzw. nachmittags unterrichtet wurden.

In Torquay an der englischen Riviera wurden wir empfangen wie die „VIP’s“. Viele interessierten sich für uns: die Zeitung, Vertreter der Gemeinde…! Viele Besucher kamen an Bord, die von unseren Schülern und Schülerinnen – auf Englisch – durch das Schiff geführt wurden. Ich erkannte einige meiner Schüler nicht wieder: im Unterricht zum Teil eher mittelmäßige Englischsprecher, hörte man sie nun mit deutlich besserem Englisch Touristen durch das Schiff führen. Bei unserem Wanderausflug ins Dartmoor wurden die unterschiedlichen Interessen deutlich: Einige ruhigere und bedächtigere interessierten sich für die wildlebenden Ponys, die Landschaft und die Überbleibsel früherer Besiedelung und Industrie. Bei anderen wurden die „wirklichen“ Interessen deutlich: sie interessierten sich für McD…, Scherzartikelläden sowie Chips…und wir bombardierten sie mit „Natur pur“! Abends auf der Thor wurde eifrig unter den Schülern und Schülerinnen diskutiert: Viele hatten sich doch eher eine „Sightseeingtour durch Großbritannien“ vorgestellt und keinen „Arbeitsurlaub“ mit Tag und Nacht Wache gehen, Klo putzen, Messing polieren, Essen kochen, Waschen, Wandern, Unterricht …! Doch gerade die Kombination aus Abenteuer, Urlaub, Lernen und gemeinschaftlichen Arbeiten gehört fest zum Konzept der HSHS und der Hermann Lietz–Schule Spiekeroog. Mit Hilfe der Besatzung stieg die Stimmung unter den Schülern aber wieder und wir konnten sie wieder für das Projekt begeistern.

Das Hinzustoßen der Schüler des Atlantic College, einer vom deutschen Reformpädagogen Kurt Hahn gegründeten internationalen Internatsschule, in Wales fand schon in Torquay statt. Wir wollten durch den Besuch der Schüler die Bordsprache vollständig von Deutsch auf Englisch wechseln. Mit den englischsprachigen Schülern kamen zusätzlich zwei Freunde von Detlef Soitzek, Expeditionsteilnehmer der „Tigris“– Expedition von Thor Heyerdahl, Rashad Salim (Irak) und Asbjörn aus Dänemark an Bord. Wir zeigten den englischsprachigen Expeditionsbericht der „Tigris“– Expedition. Die Schüler und Schülerinnen hatten die Möglichkeit den Teilnehmern der Expedition Fragen zu stellen. Für alle war dies ein sehr bewegendes Erlebnis! Einige Tage später machten wir einen Zwischenstopp auf der Insel Lundy. Hier leben außer ca. 20 Einwohnern nur Tausende zum Teil seltene Seevögel. Am selben Abend noch segelten wir weiter zum Atlantic College. Die Schule ist in einer alten Burg direkt am Bristol Channel untergebracht – wir alle ließen Harry Potter und Hogwarts innerlich aufleben!

Ungefähr während dieser Zeit änderte ich mein Unterrichtskonzept. Der normale Schulunterricht passte nicht wirklich zum lebensnahen Konzept der HSHS! Mein mühsam kopierter 50–seitiger Reader „flog über Bord“! Die vor der Reise geplanten Unterrichtsmethoden, konnte man auf einem Segelschiff bedingt durch den begrenzten Raum und die Ausstattung sowieso nicht umsetzen! Von jetzt an gab es Unterricht in Interessengruppen zu den Themen News, Weather, Nautic and Navigation, History, Science, English Films, Culture.

Ein paar Segeltage später waren wir in Stornoway auf den Äußeren Hebriden. Detlef Soitzek schlug eine Expedition vor. Die Schüler und Schüerinnen organisierten nun selbstständig: Sie teilten sich in drei Gruppen, bekamen einen geringen Geldbetrag zur Verfügung, durften begrenzt Proviant mitnehmen und sollten einen bestimmten Teil der Insel erkunden. Sie durften erst 36 Stunden später wieder an Bord der Thor Heyerdahl sein. Die Erwachsenen gingen nur als einfache Gruppenmitglieder mit. Mit dieser Idee traten wir direkt in die Fußstapfen von Hermann Lietz: während der Sommerferien war er mit Schülern mit Hilfe von einfachsten Verkehrsmitteln und wenig Geld bis nach Norwegen und Finnland, nach Italien und sogar bis Konstantinopel und Ägypten gereist. Lietz drückte mit seinem Ausspruch „Jugend muss man wagen!“ schon vor über 100 Jahren aus, wie wichtig es ist, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, und Jugendlichen die Chance zur Selbstverwirklichung zu geben.

Die Gruppe, die ich begleitete, fuhr mit dem Linienbus auf die andere Seite der Insel und campte unter freiem Himmel an der Steilküste. Bei dieser Expedition zeigte sich sehr deutlich, dass wir im Verlauf der Reise den Schülern und Schülerinnen andere Denkansätze geboten und sie diese auch zum Teil übernommen hatten. Ein Schüler, der sonst nie still sitzen konnte, und „Großkunde“ bei BurgerKing war, „verordnete“ der Gruppe Schweigeminuten wegen der grandiosen Steilküste. Irgendwie hatte die Reise einige Schüler und Schülerinnen also doch zum Umdenken bewegt! Abends „zauberten“ sie leckere Erbsensuppe auf einem Lagerfeuer aus Strandholz. Der kleine Hobbit wurde in romantischer Stimmung am prasselnden Lagerfeuer vorgelesen. Am nächsten Morgen waren alle super gelaunt, aber uns stand noch der Rückweg mit ca. 40km Wandern bevor. Wandern, weil Sonntags auf den Hebriden keine Busse verkehrten! Nach der Ankunft auf der Thor waren alle trotz vieler Flüche die stolzesten Helden. Am Auslauftag Richtung Orkney hatten wir ideales Segelwetter! Delfine begleiteten das Schiff und spielten vor dem Bug. Im Fragebogen, den ich am Ende der Fahrt austeilte, zeigte sich durch Sätze wie: „Es war toll, als die Delfine neben uns her geschwommen sind“ oder „Die Delfine, die so nah am Schiff waren, waren beeindruckend…toll war, dass ich die Chance hatte, so etwas erleben zu dürfen!“, dass diese direkte Erfahrung mit der Natur eines der beeindruckendsten Erlebnisse auf der Reise war.

Bald waren die Orkney-Inseln erreicht. Orkney – ein Name wie aus dem Märchen! Alle waren begeistert von der „Geschichte zum Anfassen“, die uns auf den Orkneys auf Schritt und Tritt begleitet: Vom Steinzeitdorf Skara Brae, 4000 Jahre alten Gräbern, mittelalterlichen Palastruinen bis his zu den Ereignissen in Scapa Flow im ersten und zweiten Weltkrieg. Schließlich nahte die Schiffsübergabe, einer der Höhepunkte auf der Thor Heyerdahl: die Schülercrew soll ihr erworbenes Wissen und Können direkt und eigenverantwortlich einsetzen. 

Auch mein Unterricht und die Leitung des Projekts wurden von zwei Schülern übernommen! Ich saß von nun an selber als Schüler in der letzten Bank. Interessant fand ich, dass sie im Unterricht viel strenger waren als ich. Unsere Abenteuereise endete in Skagen. Die Schülercrew hatte uns meisterhaft über die Nordsee gebracht. Den Abschluss bildete das traditionelle, von der Stammbesatzung vorbereitete Kapitänsdinner. Ein gelungener Abschluss einer tollen Reise! Am nächsten Morgen wartete schon der Bus, um uns wieder in die Heimat zurück zu bringen! Die auf der Reise zusammengewachsene Gemeinschaft löste sich langsam auf…

Bilanz: Die erste Summer HSHS – Reise hat mir vieles geboten. Ich hatte viel Arbeit als Lehrer, Ansprechpartner, Krankenschwester, Seelsorger, Entertainer, … und das sprichwörtlich rund um die Uhr, und war anschließend total kaputt. Aber das waren auch tolle und bestätigende Erfahrungen! Ich habe viel gelernt, habe durch ihre Erfahrungen vollständig veränderte Schüler erleben dürfen: Schüler mit Höhenangst überwanden ohne Zwang ihre Furcht und gingen freiwillig ins Rigg, Probleme und Streitigkeiten haben sie immer mehr eigenständig geklärt, sie haben zum Teil für 50 Leute sehr gutes, einfallsreiches Essen gekocht. Beeindruckt hat mich, wie konzentriert, kompetent und verantwortungsbewusst viele Schüler und Schülerinnen der 7. und 8. Klasse sein können…“

Michael–Gerjet Stahl
(Projektleiter Summer HSHS)